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Mit dem Rollstuhl nach Florida und Dubai, ein Nomadenleben auf Zeit und Neujahrspost – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Wie viele Menschen kann man lieben – und zwar gleichzeitig? Diese Frage stellt sich im vierten der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 23.09. 22 – Freitag, 30. 09. 22) angeboten werden – und zwar in der ungewöhnlichen Form einer Dreierbeziehung zwischen zwei Frauen und einem Mann. Davon jedenfalls erzählt „Johannes – Versuch einer Ehe zu dritt“ von Wolfgang Licht. Es ist eine spannende Lektüre.

Nachdem in der vergangenen Woche bereits der erste und zweite der Reise-Essays aus der Happy-Rolliday-Reihe von Hans-Ulrich Lüdemann vorgestellt wurden, folgen heute der dritte und vierte und zugleich letzte Teil: „Florida and so on. Happy Rolliday III“ sowie „Dubai – Sydney – Singapur und so weiter. Happy Rolliday IV“. Wieder sind der hochgradig querschnittsgelähmte Autor und seine Frau auf Weltreise mit dem Rollstuhl unterwegs.

Ein ungewöhnliches Tagebuch hat Renate Krüger mit „Paradiesgärtlein“ vorgelegt.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute steht das brisante Thema Terrorismus und seine Hintergründe zur Debatte: Was und vor allem wer steckt dahinter? Und wie wird jemand zum Terroristen, der bei der Gewalt keine Grenzen kennt? Nicht unwichtig ist zudem die Frage, ob und welche Antworten die Gesellschaft auf diese schrecklichen Herausforderungen finden kann und findet.

Erstmals 2013 veröffentlichte EDITION digital als Eigenproduktion „Blutiger Raps. Ein Staatsschutzroman aus Mecklenburg-Vorpommern“ von Ulrich Hinse: In diesem Buch schildert der Autor, der einst als Kriminaldirektor die Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes in Mecklenburg-Vorpommern leitete, die Auseinandersetzung zwischen einer gewaltbereiten rechtsextremen Skinheadkameradschaft und einer linksautonomen Wohngemeinschaft, sowie die Versuche der Gesellschaft, ein wirksames Mittel gegen die eskalierende Gewalt zu finden.

Ohne sich um die Gesellschaft und die Gesetze zu kümmern, machen die radikalen Jugendlichen ihr Ding. Da werden Graffiti geschmiert, Friedhöfe geschändet, es wird gekifft, aufeinander eingeprügelt und Obdachlose werden ermordet. Ohne Rücksicht. Bis sich die radikalen Jugendlichen mit den Falschen anlegen. Während die offiziellen Präventionsgruppen diskutieren, ohne zu Ergebnissen zu kommen, handelt die russische Mafia.

Ein spannender Roman, der sich an tatsächlichen Ereignissen in Mecklenburg-Vorpommern orientiert und bei dem ein Teil der Gewalttäter ein blutiges Ende findet. Das Buch beginnt mit einem Zitat eines berühmten russischen Revolutionärs adliger Herkunft und Anarchisten, der übrigens auch mit Karl Marx im Konflikt lag:

„Wer das Unmögliche nicht wagt, wird das Mögliche nicht erreichen.“ (Michail Bakunin)

DIE WOHNGEMEINSCHAFT

Timo saß auf den steinernen Stufen der Kirchentreppe und beobachtete den Informationsstand der „Kameradschaft Adlerhorst", der mitten auf dem Marktplatz der mecklenburgischen Kleinstadt aufgestellt worden war.

Vor zwei Stunden waren die fünf Skinheads gekommen, hatten einen großen Sonnenschirm und einen Tapetentisch aufgestellt, eine Vielzahl von Broschüren exakt ausgerichtet auf dem Tisch verteilt und zum Schluss zwei große Laken aufgespannt, auf denen in großen gotischen Buchstaben zu lesen war: Das Boot ist voll – Arbeit nur für Deutsche – und – Bürger wehrt Euch – Keine Graffiti -.

Adrett sahen sie aus, die fünf Skinheads. Die Glatzen frisch poliert, weiße Oberhemden mit schwarzer Krawatte, schwarze Bomberjacke, schwarze Jeans, die mit zwei halben Schlägen aufgekrempelt den Blick auf die glänzenden schwarzen Springerstiefel mit den weißen Schnürsenkeln ermöglichten. Herausfordernd musterten sie die vorbeihastenden Menschen, die am Samstagmittag in der Innenstadt noch ihre Wochenendeinkäufe erledigten. Lediglich ein älteres Ehepaar hatte den Stand aufgesucht und sich auf ein Gespräch eingelassen.

Es war keine kontroverse Unterhaltung, stellte Timo fest und hatte den kritischen Seitenblick der Alten sehr wohl bemerkt. Es war dabei auch um ihn gegangen, nachdem alle sieben unverhohlen zu ihm herüber geblickt und er die Handbewegung des größten und kräftigsten der Skins richtig gedeutet hatte.

Er war so ganz anders. Nicht dass er wesentlich mehr Haare auf dem Kopf gehabt hätte wie die fünf Kameraden unter dem Sonnenschirm. Seine Frisur bestand aus einem drei Zentimeter breiten Streifen, der von der Stirn bis in den Nacken lief. Über der Stirn waren die Haare grasgrün, wechselten in der Mitte zu einem karmesinrot und endeten im Nacken quittegelb. In den Augenbrauen und in den Ohrläppchen blinkten Piercingringe. Seine verwaschene Jeansjacke, die eine Waschmaschine schon lange nicht mehr gesehen hatte, war ausgefranst und die Knöpfe waren auch nicht mehr vollzählig. Auf dem schmuddeligen T-Shirt, es dürfte vor längerer Zeit einmal weiß gewesen sein, war mühsam das Wort „Antifa“ zu lesen. Die schlabberige Hose war zerrissen und die ausgelatschten Turnschuhe hatten schon lange keine Bürste mehr gesehen.

So saß er auf den Kirchenstufen und hatte den Leinenbeutel mit seinen Habseligkeiten neben sich gelegt. Sein Hund, ein Produkt aller freilaufenden Hunde der Stadt und wenig Angst einflößend, hatte es sich neben ihm bequem gemacht, seine Schnauze auf den Beutel gelegt und schlief.

Bruno, so hieß der Hund, hatte sich im Gegensatz zu dem älteren Ehepaar nicht von dem voluminösen Rülpser stören lassen, mit dem Timo seinem Völlegefühl nach dem letzten Schluck Bier aus der Dose Luft gemacht hatte. Just zu dem Zeitpunkt, als das Ehepaar an ihm vorbeigegangen war.

„Haste mal ne Mark?“, hatte er den alten Mann angequatscht, als dieser mit seiner Frau an ihm vorbeiging. Der hatte aber nicht reagiert und war so eilig weitergegangen, dass seine Frau, die in jeder Hand eine schwere Einkaufstasche schleppte, kaum nachgekommen war. Timo fand, dass der Rülpser die richtige Antwort darauf war. Diese Spießer gingen ihm auf den Keks. Deshalb wunderte er sich auch nicht, als ausgerechnet die beiden die ersten Besucher des Infostandes waren.

Timo griff in den Leinenbeutel, zog eine neue Dose heraus und riss sie auf. Das Bier war warm geworden, schäumte aus der Dose und tropfte auf das T-Shirt und die Hose. Es war ihm egal. Er lehnte sich zurück, blinzelte in die Sonne, kaute an den Fingernägeln, spülte die kleinen Hornraspel mit einem großen Schluck hinunter und verschaffte sich erneut mit einem Rülpser Erleichterung.

Die fünf Adretten am Tisch mitten auf dem Platz kannte er. Er war mit ihnen zusammen zur Schule gegangen, bis sich ihre Wege trennten, als er zum Gymnasium gewechselt war. Der mit der wegwerfenden Handbewegung war Daniel Speck – Nomen est omen -, der sich von seinen Freunden seit einiger Zeit Dolph rufen ließ. Schon in der Grundschule, er und Timo waren in die gleiche Klasse gegangen, hatte er das große Wort geführt und jedem Prügel angedroht, der nicht blitzschnell seiner Meinung war. Wer nicht schnell genug reagierte merkte, dass es nicht nur bei einer Drohung blieb. Schon allein deshalb hatte Timo ihn nie gemocht und war ihm aus dem Weg gegangen. In Erinnerung blieb ihm aber, dass Dolphs Schläge um ein Vielfaches besser waren, als seine schulischen Leistungen. Der Nazi hatte schon immer schlagende Argumente, fiel ihm dazu ein und zog noch einen großen Schluck aus der Dose ab.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 2005 veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann im BS-Verlag Rostock „Florida and so on. Happy Rolliday III“:

Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit war nicht zu befürchten, dass es über kurz oder lang zu einer Wiederholung des menschenverachtenden Anschlags auf die Twin Towers vom 13. September 2001 kommen würde. Also gingen wir in die Planung für den Trip nach Florida. Unser Ziel war der Westen, genauer gesagt Ft. Myers am Golf von Mexiko.

Als wir am 16. Oktober 2002 in Frankfurt am Main auf den Weiterflug nach Miami warteten, wurden wir unvermittelt an nine eleven erinnert: etwa zwanzig braunhäutige durchtrainierte junge Männern reagierten wie wir auf den Aufruf unseres Transatlantikfluges. Unverkennbar ihr arabischer Habitus. Unangenehm allerdings der auffällige Drang nach Alkohol. Das war umso unverständlicher, handelte es sich um Moslems. Es dauerte, bis wir etwaige dunkle Vorahnungen beiseite schieben konnten. In Miami tat mir diese Abordnung aus dem Morgenland beinahe leid, mussten sie doch in Habtachtstellung an der Wand verharren, bewacht durch einen Offizier des Heimatschutzministeriums, von der US Administration ein Jahr nach dem Attentat ins Leben gerufen. Die Ereignisse der nächsten Tage überlagerten düstere Gedanken an nine eleven.

Nach einer ersten Durchquerung Floridas nahmen wir Quartier in einer am Kanal gelegenen Villa, deren deutsche Besitzer wir bereits zu Hause kontaktiert hatten. Ihr Verwalter vor Ort in Cape Coral war ebenfalls ein Landsmann, wohnhaft etwa zwanzig Fußminuten vom heimatlichen Altglienicke entfernt! Die Welt ist klein. Dieser Gedanke verliert sich schnell, wenn man in Cape Canaveral steht und voller Ungeduld auf die Rückkehr der Atlantis STS 112 wartet. Pünktlich um 11:46 EDT knallte es unüberhörbar, als die Raumfähre die Schallmauer passierte.

Gemäß US amerikanischen Verhältnisse befindet sich nicht weit vom Kennedy Space Center ein Phantasiegebilde, das sich Disneyworld nennt. Für unsere Augen und Ohren eher gewalttätig – deswegen flohen wir geradezu nach Seaworld, ebenfalls in Orlando gelegen.

Zurückgekehrt in unsere gediegene Villa, erholten wir uns am Swimmingpool, bevor es wieder auf Fahrt ging nach Key West, die südlichste Stadt in den USA. Das Reisen im Auto ist etwas strapaziös, sind die Tempobeschränkungen für Europäer ungewohnt, das rigide Maß ihrer Durchsetzung ebenso.

Quasi aus dem Nichts tauchen die Patrouillen mit Sirenengeheul auf – wir vermuteten spaßeshalber eine Steuerung aus der Luft. Übrigens: Raser wie in Old Germany üblich, können unversehens im Knast landen. Die Strenge des Gesetzes gilt auch fürs Parken: Wer sich unberechtigt auf einen Behindertenparkplatz stellt, zahlt im günstigsten Falle nur 200 Dollar Strafe. Meine Frau hielt sich bis auf diese eine Ausnahme tunlichst an alle geltenden Vorgaben.

Aufgrund der Entfernung und Fahrtdauer hielten wir es für angebracht, in Key West zu übernachten. Leider war ein nobles Haus ausgebucht, das vornehmlich Schriftstellern für Arbeitsaufenthalte vorbehalten ist. Apropos: Weit über die Grenzen der USA ist das Ernest Hemingway Museum bekannt. Hier leben Katzen mit sechs statt fünf Zehen an den Vorderläufen; angeblich Nachkommen von Hemingways Kater Snowball. Unweit von hier steht eine Seetonne, eine Art rotschwarzgelber Phallus, mit dem Hinweis, dass Kuba sich nur 90 Meilen entfernt befindet. Florida heißt nicht von ungefähr the sunshine state – bei unserer Rückkehr in Berlin am 1. November erlebten wir das Gegenteil – it´s raining cats and dogs …

Und so beginnt Reise-Essay Nummer 3:

als gouverneur von texas habe ich

unseren staatlichen schulen hohe maßstäbe gesetzt, und ich habe diesen maßstäben genügt

Alle Worte zum Tage sind Zitate aus voll daneben, mr. president und schon wieder voll daneben, mr. president! Herausgegeben von Jacob Weisberg; Rowohlt Taschenbuchverlag ISBN 3 499 61661 0 bzw. 3 499 61619 x

Mit aller ihm zu Gebote stehenden Bescheidenheit hat George W. Bush in einem Online-Chat bei CNN verraten, wem die U.S.A. nunmehr ihr hohes geistiges Niveau zu verdanken haben. Wer in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten reist, sollte sich also keinen falschen Vorstellungen hingeben. Aber Ehre wem Ehre gebührt: Mag in meinem Reise-Essay der so genannte mächtigste Mann der Welt das Wort zum Tage haben. So vergisst unsereiner wenigstens nicht, woran er ist, wenn er in God’s own country reist. Möglicherweise begehe ich sehenden Auges einen nicht wieder gut zu machenden politischen Fauxpas. „Mach keinen falschen Fehler“, pflegte mein ältester Bruder zu sagen. Und Günther muss es wissen – er hat viele Jahre seines Lebens in der Fremde zugebracht.

Mit Katastrophen und Irrtümern begann es überhaupt: Im Jahre 2002 jährte sich mein Unfall, der mich für den Rest des Lebens in den Rollstuhl gezwungen hat, zum fünfundzwanzigsten Male. Ich war so voller Ideen und Tatendrang – irgendwo weit weg von zu Hause im Rollstuhl an einem Sonnen überfluteten Strand sitzend wollte ich triumphieren, dass ich überhaupt reisen konnte und auch sonst noch einigermaßen beisammen war. Hatten die Ärzte im Lazarett mir doch wegen der Höhe meiner Querschnittlähmung nur zwei Jahre Überlebenszeit eingeräumt. Zum Glück teilte man mir diesen Fakt erst mit, als es mir bereits besser ging und beispielsweise keine Erstickungsattacken mehr zu befürchten waren. Möglich, dass ich im anderen Falle resigniert hätte …

Also, ich wünschte akkurat am 22. Januar 2002 in Florida mein Jubiläum zu begehen, indem ich als Atheist unseren lieben Herrgott einen guten Mann sein lassen wollte. Die Sonne des Südens sollte mich wärmen und, wenn auch nur für kurze Zeit, alle Malaisen der vergangenen Jahre in den Hintergrund drängen. Nach einigen Fernreisen in männlicher Begleitung zum kanadischen Indian Summer oder an Aphrodites Gestaden würde nun Kerstin, die Frau-Freundin des jüngsten Sohnes, mit uns nach Übersee fliegen. Es war mehr oder weniger ein Akt der Gerechtigkeit: Das Jahr zuvor hatte Jens in Südafrika seine schützenden Hände über uns gehalten, während Kerstin sich allein um beide Töchter kümmerte. Nun sollte das Spiel anders herum gehen. Über das Internet wurden die besten Möglichkeiten ausfindig gemacht. Unser Ziel war Fort Myers. Diese Idee wurde unter sehr ungünstigen Umständen geboren: Ich war im Jahr 2000 wieder einmal in einer Berliner Klinik und mein Bettnachbar schwärmte geradezu von einer U.S.A. Reise, die seine Frau und ihn, eingeladen vom Sohn, an die Golfküste geführt hatte. Der ehemalige Bauleiter hob in seinen Schilderungen hervor, dass der Westen Floridas viel weniger Kriminalität aufweise als beispielsweise Miami. Was mich ausnehmend beruhigte – an den schönen Golf-Stränden patrouillierten berittene Polizisten.

Mit dem Hinweis des alten Herrn auf Fort Myers ist ein Erlebnis verquickt, wie es mir bislang in meinem Leben noch nicht widerfahren war: Als ich aus der Klinik entlassen wurde und im Flur der Station auf Dörte wartete, da trat die Frau meines Bettnachbarn an mich heran und fragte, ob ich religiös sei. Verdutzt schüttelte ich den Kopf. Daraufhin erkundigte sie sich beinahe schüchtern, ob ich dennoch ihren christlichen Segen für mein künftiges Leben annehmen würde. So weit geht mein Atheismus nicht, dass ich Gutes von mir abwende, nur weil es mit einer Frage des Glaubens verknüpft ist. Ich ließ sie also gewähren. Und weil mir tatsächlich in der Folgezeit bei allen gesundheitlichen Malaisen letztlich immer wieder das notwendige Quäntchen Glück zur Seite stand – wer weiß? Fort Myers sollte es sein. Mit einer direkten Flugverbindung war es allerdings schwierig, erfuhr ich beim reisebüro dietrich. Nonstop war vom Flughafen Düsseldorf möglich. Das bedeutete allerdings, sich terminlich dessen Flugplan unterzuordnen. Andersherum: Von Miami nach Ft. Myers sind es nur etwa 141 Meilen (Meilen mal 8 durch 5 gleich Kilometer) und wenn unsere Ankunftszeit um die Mittagstunde eingehalten wurde, dann konnten wir problemlos im Mietwagen gewissermaßen als Sightseeing zum Ferienhaus am Golf von Mexiko fahren. Eingedenk der Erfahrungen, die wir 1993 in San Francisco beim befreundeten Ehepaar Renate und Harald Schmolinske machten, hielten wir irgendein amtliches Dokument aus dem Hause des Gouverneurs für vorteilhaft beim Parken oder für Ermäßigungen aller Art. Weder auf eine diesbezügliche e-mail noch auf ein Fax erhielt ich Antwort aus Florida, geschweige denn die gewünschte Vignette für eine handicapped person. Dann eben nicht – muss mein für die EU geltender Ausweis genügen – dachte ich.“

Ebenfalls erstmals 2005 veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann wiederum im BS-Verlag Rostock „Dubai – Sydney – Singapur und so weiter. Happy Rolliday IV“: Mit einem größerem Irrtum ist wohl selten eine Weltreise begonnen worden: als die Frage stand, wann wir unseren Australien-Trip starten sollten, da fielen mir die XX. Olympischen Sommerspiele 2000 ein mit ihrem herrlichen Sonnenwetter. Mein Gedankenfehler lag darin, dass jene Spiele statt im September bereits Ende Februar veranstaltet worden seien. Also planten wir unsere Reise von Mitte Februar bis Anfang März 2003. Zum Glück hat sich dieser Irrtum nicht negativ ausgewirkt. Ab München flogen wir mit Emirates nach Dubai, um hier einen so genannten Stopover einzulegen. Zum ersten Mal in unserem Leben erhielten wir eine Ahnung von Tausendundeiner Nacht. Das einst kleine primitive Fischerdorf hatte sich wie andere Orte bzw. Emirate durch das Öl derart entwickelt, dass der Tourist sich schon genau umschauen musste, wollte er Spuren der jüngsten Vergangenheit entdecken. Zu diesen gehört auch die Goldstraße in Alt-Dubai. Mehr als 200 Läden boten seinerzeit Goldwaren an; da sie von einer Art Produktionsgenossenschaft nach stets gleichem Muster hergestellt wurden, stumpfte unser anfängliches Interesse relativ schnell ab. Das war so, als wäre man in einer Straße, in der nur Bäckereien ihr einheitliches Sortiment Torten anbieten würden. Resultat unserer Überfütterung – ein Verzicht auf jedwedes Gold …

Die Supermärkte für Waren aller Art erwiesen sich als Konsumtempel, zumal der Kurs des Dirham zum Euro wohl bewusst niedrig gehalten wird, um etwaigen Käufern die Entscheidungen zu erleichtern. Vor allem Schmuck, Schweizer Uhren und textile Markenware waren durch diesen Geschäftstrick sehr gefragt.

Nach diesem Stopover brachte Emirates uns über einen kurzen Zwischenstopp in Singapur nach Sydney. Da es vormittags war, hatten wir genügend Zeit, unseren Mietwagen zu übernehmen und die Herbergseltern aufzusuchen. Die älteren Eheleute waren erfahrene Gastgeber. Sie sparten nicht mit Tipps. So verlebten wir knapp zwei Wochen in und um Sydney. Dazu gehörten Abstecher in die Blue Mountains, zu herrlichen Seebädern am Pazifik und in verschiedene Museen. Kreuzungspunkt war stets der Zentrale Fährhafen – jeden Tag quasi Ehrenrunden um den einmaligen Opernbau im Hafen Sydneys! Und über uns auf der Harbour Bridge bekämpften Unentwegte in über 130 Metern Höhe ihre Angst oder Übelkeit …

Es blieb nicht aus, dass wir auch im Hafen faulenzten, mit offenen Mündern ein riesiges Kreuzfahrtschiff beim Navigieren beobachteten oder einen Nachbau der Bounty bestaunten, der seinen Dienst als Vergnügungskahn anbot. Auch die unbeschwerte Art der Aussis im Umgang miteinander war auffällig: ob Schwarz mit Weiß oder Weiß mit Gelb oder Gelb mit Schwarz – neugierige aufdringliche Blicke wie zu Hause leider üblich, sahen wir nie.

Das Zusammenleben verschiedener Rassen bzw. Völkerschaften funktionierte nach unserem Augenschein ebenso bei unserem zweiten Stopover in Singapur. Eine Fünfmillionenstadt wie sie wohl in ihrer Sauberkeit und Ordnung einzig auf unserem Planeten existiert. Wer in der 2,2 km langen Orchad Road shoppen will, kann es bei über 5.000 Markenartikeln nach Herzenslust tun. Steht doch der Singapur Dollar wie der Australische Dollar günstig zu unserem Euro.

Ein riesiger Freizeitpark auf der Insel Sentosa lässt an Vergnügungen keine Wünsche offen. Klarkommen muss man allerdings mit dem feuchtwarmen Klima – der beeindruckende Botanische Garten Singapurs ist Beweis genug.

Unsere Tour fand über Dubai und München ihren Abschluss. In Berlin war es wie erwartet nasskalt. Gegen solche Unwirtlichkeit half nur, sich der schönen Stunden unserer Reise zu erinnern. Hier aber erstmal der Anfang der Reise:

Zum Reisen gehört Geduld,

Mut, guter Humor, Vergessenheit aller häuslichen Sorgen und dass man sich durch kleine widrige Zufälle, Schwierigkeiten, böses Wetter, schlechte Kost und dergleichen nicht niederschlagen lasse.

FREIHERR VON KNIGGE

(lebte von 1752 bis 1796. Sein Name bleibt überliefert durch das Benimmbuch Der Knigge. Verdankte es Goethe, dass er 1777 am Weimaraner Hofe eine Anstellung als Kammerherr erhielt. Wenig bekannt ist seine Reformation des Illuminatenordens – ein 1776 gegründeter Geheimbund. Das Licht der wahren Vernunft sollte die Ziele der Aufklärung vorantreiben. Goethe und Herder waren Mitglieder. Straff organisierter Verein mit Tarnnamen und verdeckten Treffs. Später zum Ausspionieren familiärer Verhältnisse der mehr als 2 500 Mitglieder missbraucht. Der bayerische Kurfürst Karl Theodor verbot den Orden 1785, weil dessen Mitglieder im Verdacht standen, in seiner Kanzlei außenpolitisch wichtige Papiere entwendet zu haben. Es wurde damals kolportiert, dass sie etwas mit dem Ausbruch der Französischen Revolution zu tun gehabt haben sollen.)

Auf seine Art ist der Lyriker Jorg Schröder mit der bedrückenden Vision vom reisewütigen Zeitgenossen auch eine Art Knigge. Ein Mahner des guten Benehmens für Touristen der Neuzeit. Ich hoffe, dass ich mit meinen bisherigen drei Reise-Essays nicht dem Bilde eines so genannten Touri – wie ich meine, ein negativ besetztes Wort – entspreche. Doch nun zum Original, dessen Zitat als Wort zum Tage gewählt worden ist: Was Adolph Franz Friedrich Freiherr von Knigge 1788 in seiner zweibändigen Gesellschaftslehre Über den Umgang mit Menschen unabsichtlich vergessen hatte, das ist der Irrtum. Ihm war es wohl nicht in den Sinn gekommen, dass einer seine Reise auch irrtümlich planen kann. Quasi den Termin verwechselt. Ich vermag mich noch gut an den Ausgangspunkt erinnern: Mein 25-jähriges Überleben nach einem schweren Unfall hatten wir eigentlich frohgemut an Floridas Gestaden begehen wollen, aber wegen des Attentats am 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center verschoben wir diese Reise um ein Jahr, da niemand voraussagen konnte, mit welchen Zwangsmaßnahmen die U.S.A. darauf reagieren würden. So kam es, dass meine Frau und ich am 22. Januar 2002 im vortrefflichen Rheinsberger Donnersmarck-Hotel den Entschluss fassten, nach mehreren Fahrten in die U.S.A. (San Francisco and so on ist 2003 im Verlag Ulmer Manuskripte erschienen und als E-Book bei EDITION digital) und nach Südafrika (KAPSTADT und so weiter ist 2004 im Verlag Ulmer Manuskripte erschienen und als E-Book bei EDITION digital) die weiteste Tour – sprich Australien – zu wagen. Nicht, dass wir fast 60-Jährigen etwa Schisshasen wären, aber wenn der Ehemann als Tetraplegiker (Tetraplegiker sind ab den Halswirbeln gelähmt – Paraplegiker ab den Brustwirbeln) seit 25 Jahren in den Rollstuhl gezwungen lebt, dann gestaltet sich ein derartiges Unternehmen trotz aller Erfahrungen doch etwas anders als üblich.

Apropos Donnersmarck-Hotel. Das lobenswerte, weil barrierefreie Haus für Behinderte war gerade eröffnet worden. Nichtsdestoweniger wollte ich das erste Mal nach meinem unverschuldeten Verkehrsunfall einige Schwimmversuche wagen. In der Werbung hatte ich die kleine Schwimmhalle gesehen, vor allem jenen Mini-Kran, der mich aus dem Rollstuhl heben und ins Wasser absenken konnte. Es klappte leider nicht – das Schwimmbecken wurde während unseres kurzen Aufenthaltes technisch überholt. Soll heißen – es befand sich kein Wasser in der gesamten Anlage. Kulanterweise trug das Hotelmanagement unserer Enttäuschung Rechnung, indem ein Preisnachlass gewährt wurde. Für Interessenten – egal wie vielköpfig die Gastfamilie anreist – mindestens einer muss dabei sein, dessen Behinderungsgrad von Amts wegen auf über 50 Prozent anerkannt ist. Also Rheinsberg gegen die sonnenüberfluteten Strände am Golf von Mexiko – uns nicht sehr wohlgesonnene Menschen (wir kennen aber zurzeit keinen!) würden einen dämlichen Spruch parat haben: Die Lüdemann’s wollten wie Tiger abspringen und sind als Bettvorleger gelandet …

Aber zurück zum Irrtum. Die angenehme Atmosphäre in Rheinsberg war schuld, dass wir trotz alledem übers Reisen parlierten und irgendwie einigten wir uns endgültig auf Florida zum Jahresende 2002, um dann darüber hinaus eine Reise nach Sydney in Erwägung zu ziehen. Ich war fix dabei, einen Termin anzuberaumen: Sommer sollte sein – in den südlichen Breiten unserer Erdkugel erstreckt er sich von Oktober bis März. Und hier unterlief mir nun jene kolossale Fehlrechnung: In meiner Erinnerung hatten die Wetterstrategen für Olympia 2000 in Sydney unseren Winter ausgesucht wegen der stabilen Witterung. Von wegen! Die Olympischen Spiele fanden statt im australischen Frühjahr, also die Zeit ab September bis Oktober. Und keiner war da, der mir widersprach beziehungsweise ich erläuterte auch nicht weiter, warum ich ausgerechnet einen Termin vom 15. Februar bis zum 6. März angesetzt hatte. Groten Schiet, sagt der Fischkopp. Zu dieser auserwählten Bevölkerungsgruppe darf sich zählen, wer beispielsweise wie ich im vorpommerschen Greifswald oder ähnlich dichtbei der Küste geboren wurde.

Mein Irrtum zog leider weitere Kreise, weil wir auf unseren Reisen, außer 1993 nach San Francisco, stets jemanden aus der Familie eingeladen hatten. Als einzige Gegenleistung wurde erwartet, uns unterwegs Schutz und Trutz angedeihen zu lassen. So klappte es mit dem zweitältesten Sohn Jan auf Zypern und 1997 in Kanada beziehungsweise auf der Autotour durch die Neuenglandstaaten Vermont, New Hampshire und Maine zum Freund und Kollegen Otto Emersleben. Der jüngste Sohn begleitete uns 2001 nach Südafrika und seine FrauFreundin Kerstin war 2002 in Fort Myers, Florida, eine großartige Stütze. Jetzt also Sydney (internationale Airport-Legende SYD) in down under mit Stopover in Dubai (internationale Airport-Legende DXB) und Singapur (internationale Airport-Legende SIN). Und wir einigten uns in Rheinsberg auf Lutz – ein Mauer-Jahrgang und Cousin meiner Frau. Wir waren mit ihm und seinen Eltern etwa zwei Dutzend Male an Dänemarks Gestaden im Urlaub gewesen – er zeigte stets viel Verständnis für unsere besondere Situation. Möglicherweise würde ihn eine derartige Fernreise wieder etwas stabilisieren. Der Junge hatte nämlich zu dieser Zeit eine Menge am Hacken mit Arbeitslosigkeit, gesundheitlichen Problemen und verschiedenen Freundinnen. Nicht dass jemand das vorletzte Wort falsch interpretiert: Keine der Damen war verstorben – es gab manchmal Probleme mit ihnen.

Diplomatisch erkundigten wir uns zuerst bei den Eltern. Onkel Horst und Tante Margot hatten gegen unseren Plan nichts einzuwenden, so dass wir eine passende Gelegenheit wahrnahmen, um ihm unser Angebot zu unterbreiten. Ich denke, meine Erinnerung trügt mich nicht: Lutz geriet kurzzeitig etwas aus dem Häuschen – der 41-Jährige herzte uns, dass es so eine Art hatte. Unser Hinweis auf den Linksverkehr in Australien beeindruckte ihn kaum – so reagiert eben die reifere Jugend auf Probleme, die beispielsweise für mein Weib welche sind. Alle notwendigen Abreden wurden getroffen. Arbeitsamt, Umschulung und Praktikum seien keine Hindernisse, hieß es. Und so löste ich den Torpedo aus, soll heißen, das immer aufs Neue bewährte Altglienicker reisebüro dietrich ging für uns in die Spur: Flugkarten und Hotels in Dubai (Schreibweise auch Dubayy) und Singapur, die ich ausgesucht hatte, mussten gebucht werden. Seit San Francisco wissen wir, dass bei der betreffenden Airline und den Flughäfen für mich eine Anmeldung vorliegen musste. Gemeinsam mit Wolfgang Dietrich fertigten wir das entsprechende Formular für eine physically handicapped person aus, das meine jeweilige Ankunft signalisierte und den Grad der Hilfeleistung vom Airport festschrieb. Da ging es um Höhe, Breite und Gewicht meines Rollstuhls. Eine Unterkunft in Sydney wollte ich per Internet selbst suchen. Mir lag nichts an einer weltläufigen supermodernen Touristenburg – ich mochte eher ganz nah dran sein an den Sydneysider (so bezeichnen sich die Einwohner der australischen Metropole). Die Lösung dafür lautete für uns Bed & Breakfast. Dass beide Arten der Übernachtung sich auch im Preis gewaltig unterschieden, das soll nicht unerwähnt bleiben …“

Erstmals 2002 erschien im Tauchaer Verlag „Johannes – Versuch einer Ehe zu dritt“ von Wolfgang Licht: Vor, während und nach den gesellschaftlichen Veränderungen im Osten Deutschlands vollzog sich das ungewöhnliche Leben jenes Medizinstudenten und späteren Arztes, von dem uns Wolfgang Licht erzählt.

Der Kern des Geschehens verleiht dem Buch hierzulande das Siegel der Einmaligkeit: Zwischen dem Mann und zwei Frauen entwickelt sich eine eindrucksvolle Beziehung starker seelischer Bindungen und spektakulärer sexueller Dreisamkeit, die als beglückende Erweiterung der Persönlichkeit erlebt wird. Dennoch kann das Unheil nicht ferngehalten werden, was schließlich zu einem tragischen Schicksal der „menage á trois“ führt. Zunächst einmal aber deutet noch nichts auf eine solche Ehe zu dritt hin:

ERSTER TEIL: JOHNS VORZEIT

  1. Kapitel

John hörte auf das Geräusch, das die Räder des Zuges auf den Stößen der Schienen machten. Ein hartes knallendes Schlagen. Eisen auf Eisen. Rücksichtslose Härte. In wechselndem Rhythmus: schneller werdend bei zunehmender Fahrt, wie von Freude getrieben; und zögernd, resignierend, bei Verlangsamung.

Er sah durch die Fenster des Abteils: gebirgiges Land, durch das sich der Zug schleppte. In den engen Kurven konnte er die bullige Dampflok der Kleinbahn sehen, mit ihren roten Rahmen und Rädern. Ein nächstes Mal die einen Halbbogen bildenden Wagen, von dem aus, in dem er saß, bis zum Ende des Zuges.

John war bei Tagesgrauen aufgestanden, um von L. nach K. zu kommen, wo er den Zug nach Fichtbach bestieg, in dem es mit einem Male voll geworden war. Voll von jungen Leuten, die offenbar aus den verschiedensten Gegenden des Landes gekommen waren, um als Bauhelfer für die entstehende Talsperre zu arbeiten, wo sie ein Nomadenleben auf Zeit führen würden.

John hatte buchstäblich in letzter Minute von der Werbeaktion erfahren. Darin wurde jedermann aufgerufen, sich an dem Volksbau zu beteiligen, soweit er abkömmlich wäre und es nötig hätte, zu Geld zu kommen, oder auch nur dem Alltäglichen für eine Weile entkommen wollte. Vor wenigen Tagen hatte der achtzehnjährige John sein Abitur abgelegt. Der Schulden bei seinem Klavierlehrer wegen, aber auch, um sich etwas zu verdienen, hatte er sich zu der Aktion gemeldet, unter der Bedingung, als sogenannter freier Arbeiter bei einer Firma eingestellt zu werden, was ihm zugesagt wurde.

Inzwischen war der Nachmittag vorüber, die Grenze zum Abend erreicht, den man an einem kühlen Lufthauch, sich verbreiternden und verlängernden Schatten ahnen konnte. Draußen zogen Fichtenwälder vorbei, die die Rücken der Berge bis zu deren Gipfeln bedeckten. Tiefblaue Flächen, von gelbgrünen, fieder- oder grätenförmigen Streifen durchbrochen. Ein Baum, einsam auf einem Vorsprung stehend, loderte im hellen Lichte gleich einer Flamme.

Eine flüchtige Bangigkeit und das Gefühl des Unbehaustseins, das John angekommen war. infolge der abendlichen Kühle, des kräftigen Geruchs nach Erde und Nadelwäldern, verging rasch, zog sich gewissermaßen zurück in die Winkel seines Gemüts. Obwohl von Natur aus nicht ängstlich, bedrückten ihn mitunter Dunkelheit und Kälte, und beim Versinken der Sonne und aufkommender Kühle befiel ihn zuweilen eine unbestimmte Melancholie, die, wohl in früher Kindheit entstanden, ein Teil seines Wesens war.

Der Bahnhof in Fichtbach war klein. Die jungen Leute, die wie John zur Talsperre wollten, waren ausgestiegen. Sie erkundigten sich bei einem Mann am Schalter nach dem Weg zur Baustelle, die sie nach etwa halbstündigem Marsch erreichten. Im Verwaltungsgebäude trennten sie sich. John erhielt den Bescheid, sich in der Baracke drei zu melden.

Er nahm den Lehmweg, der zu der genannten Baracke führte. Nach einiger Zeit sah er zwei Personen vor sich hergehen. Sie trugen lange Hosen. Ihre Haare waren kurz geschnitten. Im herrschenden Gegenlicht und aus der Ferne waren sie hinsichtlich ihres Geschlechts nicht sicher zu bestimmen. An der Art ihrer Bewegung, ihres Ganges und einer gewissen Anmut in ihrer Körperhaltung glaubte John schließlich, dass es Frauen seien. Er wollte sie aber nicht einholen und nicht anrufen. So verlangsamte er seinen Schritt etwas. Bei einer Wegbiegung hinter einer Buschgruppe waren sie plötzlich verschwunden. Als John diese Stelle erreicht hatte, sah er sie auch nicht mehr. Obwohl der Weg zur Baracke vor ihm noch lang war und schnurgerade verlief. Sie hätten, um John aus den Augen zu kommen, gerannt sein müssen. Oder sich seitlich über die Wiesen wenden, wobei sie dort stehende Bäume förmlich als Deckung hätten nehmen müssen. Vielleicht, dachte er, hatte ihm seine sich nun einstellende Müdigkeit ein Phantom vorgespiegelt?

Die Baracke lag westlich. Die eben untergegangene Sonne hatte den Himmel über dem Gebäude in ein karmesinrotes Licht getaucht, das aussah. als steige es aus der Baracke empor, werde von ihr ausgeschieden. Ihre faserige Holztür war nicht eingeklinkt. John drückte sie auf, trat ein. Doppelstockbetten in Reihe standen mit den Giebeln zur Wand an der linken Seite. In der rechten, Fenster in Holzrahmen, deren weiße Farbe ziemlich abgesplittert war. Auffällig ein rustikaler Tisch in Türnähe, der die Form eines gleichschenkligen Dreiecks hatte, aber auf vier Beinen stand. Drei unter den Ecken, ein viertes stützte seine Mitte, als müsse es der mächtigen Platte einen zusätzlichen Halt geben. Die Stühle um den Tisch waren besetzt mit jungen Männern in Johns Alter.

Vor der Fensterwand, an der Basis des Dreieck-Tisches, dessen Spitze in den Raum ragte, saßen einige in Gespräche vertieft. Drei andere hatten einen Hocker zwischen ihre Stühle gestellt, um den sie sich geschart hatten, Tarock-Karten in den Händen. Weitere saßen auf der Kante ihres Bettes oder lagen auf den Matratzen.“

Erstmals 2008 erschien bei Books on Demand Norderstedt „Paradiesgärtlein. Ein Tagebuch“ von Renate Krüger: Unter dem Begriff PARADIESGÄRTLEIN verbirgt sich mehr als ein Bild, nämlich Sehnsucht, Kreativität, Suche nach Schönheit und Harmonie, eingebettet in die bisweilen recht harten Alltage des Jahresablaufs. Es geht nicht um Nostalgie, sondern um Sinndeutung und Sinnfindung. Der Text ist eine Summe aus mehreren Jahrzehnten, eine Zusammenfassung zahlreicher Erfahrungen zwischen Gewinn und Verlust, bestehend aus authentischen Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Gedichten.

Im oberrheinischen PARADIESGÄRTLEIN spielen die Heiligen ihr Leben nach. Sie haben den Ernst dieses Lebens schon hinter sich.

Das Spiel ist die Überwindung auch des Absurden. Im Spiel ist ja die Welt vernünftig und in Ordnung. Eine der Grundlagen jedes Spieles ist die Gerechtigkeit.

Spiel ist etwas anderes als Beschäftigungstherapie, als eine günstige, leicht zugängliche Möglichkeit, Zeit zu nutzen und etwas zu tun, was einem gut tut, weil es durch die erreichte Entspannung dazu hilft, die Zeit danach zum Funktionieren und Produzieren umso besser zu nutzen.

Wird das Spiel Mittel zum Zweck oder selbst Zweck, nimmt es die Formen und Belastungen der Arbeit an. Hier der Anfang dieses ungewöhnlichen Tagebuchs, das am zweiten Tag des neuen Jahres eine schlechte Nachricht verzeichnet:

1. Januar

Der Himmel ist wie ein naives Gemälde, voller farbenprächtiger Raketen. Prosit Neujahr!

Erneuerung ist etwas anderes als Neuerung.

Ein stürmischer Geselle

stampft über die Jahresschwelle

mit ungeputztem Schuh

und reißt aus himmlischer Ruh

den Knaben im lockigen Haar

und den Schnee vom vergangenen Jahr.

Viel Neues hat angefangen

bevor das Alte vergangen.

Der Sturm trennt nicht alt und neu

treibt heutige Zeitung als Spreu.

Nun öffne den Schlagbaum der Zeit

und pfeife dem Sturm das Geleit.

[*] Januar

Die erste Post des neuen Jahres: verspätete Weihnachts- und Neujahrsgrüße, ein Kontoauszug und ein amtliches Schreiben, in dem mir nicht mehr und nicht weniger mitgeteilt wird, als dass bis Jahresende die Nutzungsrechte an meinem Garten erlöschen. Bis dahin könne ich noch säen und ernten nach Herzenslust. Aber dann … Das Grundstück sei zum Baugelände erklärt worden. Für das Gartenhäuschen könne ich keine Entschädigung erwarten, es befände sich ohnehin in Treuhandverwaltung, und ich habe es nur zur Nutzung erhalten. Ebenso verhalte es sich mit den Obstbäumen.

Dann folgen Hinweise auf Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen.

Alles hat seine Richtigkeit, aber wie lange wird es dauern, ehe meine Welt wieder stimmt?

Ich lege den Brief erst einmal weg, er verursacht mir körperliche Schmerzen.

Welch ein Jahresbeginn!

Immer wieder fällt mein Blick auf das PARADIESGÄRTLEIN, eine farbige gerahmte Reproduktion, ein Geschenk von G., sie kaufte es mir bei unserem gemeinsamen Besuch im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt. Ich war damals ungehalten, dass ich diese Rolle nun auch noch transportieren musste.

Dabei gehörte mir dieses Bild doch schon seit Jahren, seit Jahrzehnten. Immer wieder hatte ich mich damit beschäftigt, darüber geschrieben, gesprochen.

Die Darstellung des Paradiesgärtleins war in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verbreitet, besonders in Deutschland. Man gab dem Thema auch noch andere zärtliche Namen: Maria in der Rosenlaube, Maria im Rosenhag. Solche anrührenden Bilder entstanden in einer Zeit besonderer Verfeinerung, während einer kulturellen Hochblüte. In der Kunstgeschichte prägte man für diesen Zeitabschnitt den Begriff des Weichen Stils, der Schönen Madonnen.

Das Bild lebt noch aus der Mystik des 14. Jahrhunderts, aus dem Bewusstsein, dass sich Gott und Mensch in Liebe und Einssein begegnen, dass der Mensch ganz in Gott aufgeht und das Paradies zum Geschenk erhält. Solch mystischer Höhenflug ist hier freilich herabgemildert zum religiösen Idyll.

PARADIESGÄRTLEIN – es präsentiert mystische Bilder, die man aus den Visionen der Propheten entwickelt hatte, Sinnbilder und Vorbilder Mariens. Der verschlossene Garten, die versiegelte Quelle.

PARADIESGÄRTLEIN – eine Utopie, eine Illusion und doch unausrottbar. Nimmt man dem Menschen diese Illusion, raubt man ihm ein Stück Herz.

Die Versuchung, alles hinzuwerfen, ist groß. Wozu das Bemühen um das Paradiesgärtlein? Das ist doch auch nur ein Abwehrmechanismus, ein Ersatz für nicht selbst erfahrenes Leben, manchmal wie das Vorantreiben eines Stollens bis an eine Stahlwand. Ein ewiges Suchen. Wer garantiert einen Fund?

Der verschlossene Garten ist kein Wertmaßstab, er ist nicht aus sich selbst grundsätzlich besser als der geöffnete, für alle zugängliche Garten, sondern ein Zeichen, das auf mehr deutet. Auf was? Vielleicht war es ein falsches Bild, das mich veranlasste, mir jahrelang gar keine Bilder mehr zu machen, sondern mich mit der unmittelbaren Gegenwart, der sogenannten Realität, zufriedenzugeben. Wohin wird mich mein neues Bild führen? Die Geschichte meines Paradiesgärtleins ist die Geschichte seines Verlustes.

[*] Januar

Das Gartentor ist vereist, aber es lässt sich schließlich doch öffnen. Ich kann nicht alle Spuren im Schnee deuten. Viele Tiere waren zu Besuch, Hasen, Eichhörnchen, vielleicht auch ein Fuchs. Die Sträucher stöhnen unter der Schneelast, ich schüttle sie kräftig, und sie recken und strecken ihre Zweige wieder in die Waagerechte. Die Obstbäume scheinen mich um den gleichen Dienst zu bitten, der viele Schnee schade ihnen …

Auf euch wartet schon die Motorsäge, was kann euch bis dahin noch passieren?

Hoher Schnee und strahlende Sonne. Die Samenkörner liegen tief unter Schnee und Erde. Ich möchte soviel Neues. Dann und wann tauchen Schlangengedanken auf und flüstern: PARADIESGÄRTLEIN – ist das nicht feige Flucht in die Oase? Heitere Resignation im Idyll?

Aber ich muss doch von irgendeinem Punkt ausgehen, aufbrechen, wenn ich einen neuen Weg gehen möchte.

Ich kann nicht stehen bleiben und nach allen Seiten kämpfen.

Unsere Hausnachbarin meiner Kinderzeit hatte Beziehungen zu Schokolade, die ich nur aus frühester Kindheit kannte. Einmal brachte sie mich dazu, für zwei winzige Schokoladenquadrate ihr Gartenrechteck vom Unkraut zu befreien. Ich jätete also bei Hitze und Trockenheit vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag Unkraut, aber ich tat es nicht gern. Ich empfand diese Arbeit als Sklaverei; mein Rücken schmerzte, und meine Zunge klebte am Gaumen.

Der abendliche Genuss der wenigen Quadratzentimeter Schokolade entsprach sogar in meinem kindlichen Bewusstsein nicht der ganztägigen Strapaze des Unkrautjätens und Hackens. Was war das schon: Blasen, Schweiß, Erwartung, ein paar süße Augenblicke am Abend und danach Enttäuschung …

PARADIESGÄRTLEIN – ich möchte gern fortfahren in der Betrachtung des Bildes, aber die Berücksichtigung aller wissenschaftlichen Zusammenhänge erscheint mir als hohe Schwelle, die mir Widerstand entgegensetzt.

Meine Kollegen wissen das alles. Sie kennen die dazugehörigen Schlüsselworte wie Betrachterperspektive, Immanenz und Transzendenz, Mystizismus, Kolorit und Ikonografie.

Natürlich könnte auch ich die Karteikarte schreiben: Oberrheinischer Meister um 1410, Paradiesgärtlein, Tempera auf Holz, 26,3 mal 33,4 Zentimeter. Auch ich würde noch einmal kritisch hinschauen, ob die Zahl hinter dem Komma stimmt. Ich könnte auch die Literatur, die über dieses Bild erschienen ist, auf die Karteikarte schreiben, wahrscheinlich würde die kleine Fläche für alle Titel gar nicht ausreichen.

Ich scheue mich wieder vor der Schwelle. Darf ich das Bild einfach nur betrachten, wenn die anderen soviel darüber wissen?

Der Blick auf das PARADIESGÄRTLEIN ist wie ein schnelles angestrengtes Spähen durch ein Loch im Zaun, der zwischen dem Alltag und dem Land unserer Sehnsucht liegt. Ich darf diesen Blick zwar aussenden, doch wenn ich ihn als Endpunkt, als Erfüllung ansehe, werde ich das Ziel nicht erreichen.“

Ein Jahr bleibt also der Autorin, um noch einmal ihr eigenes Paradiesgärtlein zu bestellen und sich mit den wichtigen Dingen des Lebens auseinanderzusetzen und sich selbst auf die Spur zu kommen. Und die Leserinnen und Leser ihres ungewöhnlichen Tagebuchs dürfen dabei sein – vom 1. Januar, Neujahr, bis zum 31. Dezember, Silvester. Unter diesem Datum notiert Renate Krüger:

[*]Dezember

Vertrauen: alles wird weiterwachsen, auch für die nächsten Generationen. Und so will auch ich meinen Garten für die nächsten Generationen bestellen.

Viel Vergnügen und heiter-gelassene Nachdenklichkeit, einen schönen Herbst, der heute – zumindest kalendarisch – exakt um 03.03 Uhr begonnen hat, und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Und was übrigens die in diesem Newsletter thematisierte „Menage à trois“ angeht, so ist diese Dreierbeziehung ein ziemlich weit verbreitetes Sujet in der Literaturgeschichte. Man denke zum Beispiel an „Der Garten Eden“ von Hemingway und „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera – auch eine oder besser gesagt zwei freundliche Leseempfehlungen …

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 27 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.200 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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