Gesundheit & Medizin

Autismus dank Innensicht besser verstehen

Es ist die quasi nicht vorhandene Reizfilterung, die im Gehirn von Menschen mit Autismus dafür sorgt, dass sie viel öfter und schneller als andere in höchste Anspannung und Stress geraten, was sie gegebenenfalls zum „Ausrasten“ bringt. „Dieser Automatismus ist ganz tief verankert: die Instinkte brechen durch und lassen sich kaum kontrollieren“, erklärt Aleksander Knauerhase, der selbst von Autismus betroffen ist. Er arbeitet als freiberuflicher Referent und Autor und bietet Ergotherapeut:innen Fortbildungen an der Akademie des DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.) an. Das Ungewöhnliche an seinem Programm: Er kann die Besonderheiten von Autist:innen aus seiner persönlichen Innensicht authentisch schildern. Dies ermöglicht teilnehmenden Ergotherapeut:innen eine weitere Perspektive bei ihren Interventionen mit Kindern und Erwachsenen mit Autismus.

Häufig verblüfft oder verängstigt es Nicht-Betroffene: Sie erleben dieselbe, vermeintlich harmlose, alltägliche Situation wie ein Kind oder eine erwachsene Person mit Autismus, aber im Gegensatz zu Nicht-Autist:innen rauschen bei Autist:innen sämtliche Geräusche, Gerüche, Farben, Berührungen und vieles mehr völlig ungefiltert in ihr Gehirn und lässt sie für andere meist unvermittelt aufschrecken oder verzögert reagieren; auch lassen sie sich dadurch leicht ablenken oder sie „rasten aus“. „Das Gehirn nicht-autistischer Menschen filtert alles weg, was gerade nicht wichtig ist“, veranschaulicht Aleksander Knauerhase den Unterschied und warum die Wahrnehmungsverarbeitung bei Menschen mit Autismus so anders ist als die Nicht-Betroffener. Knauerhase spricht für alle Autist:innen, wenn er sagt: „Vor allem das „Ausrasten“ kommt fälschlicherweise bei anderen oft als Wutausbruch oder Aggression an“. Doch sind Menschen mit Autismus nicht per se „böse“ oder greifen andere gezielt an. Damit Nicht-Betroffene diese und andere Verhaltensweisen besser verstehen und vor allem geschickter damit umgehen können, hat Knauerhase das Programm W.Ü.S.T.E. entwickelt.

Wissen und erkennen, was in Autist:innen vorgeht

Im Modul „W“ wie Wahrnehmung geht der Trainer in der Tiefe auf die zuvor beschriebene, besondere Wahrnehmungsproblematik autistischer Menschen ein. Außer der Wahrnehmungsverarbeitung gibt es zwei weitere, wichtige Faktoren, die das Leben von Menschen mit Autismus maßgeblich bestimmen: Überlastungserscheinungen und Sicherheit. „Eine der Kernbotschaften des Seminars ist: Alles, was die teilnehmenden Ergotherapeut:innen über Autismus erfahren, dürfen sie in die „Schublade“ Autismus packen, diese schließen und den Inhalt als Wissen abspeichern“, erklärt der Autismus-Experte. Er wird nicht müde – sogar gegenüber Ergotherapeut:innen – zu betonen, dass die wichtigste „Schublade“ immer die mit der Kennung „Mensch“ sei. Bei Ergotherapeut:innen rennt er damit offene Türen ein, denn diese Berufsgruppe ist dafür bekannt, ihre Patient:innen und nicht deren Erkrankung, Störung oder Defizite zu betrachten. Sie stellen den jeweiligen Menschen mit seinen Fähigkeiten und Ressourcen in den Mittelpunkt und orientieren sich an seinen individuellen Anliegen und Bedürfnissen. Sie gehen feinfühlig vor und haben – bei Autist:innen erst recht – ein Auge auf deren hochsensibles Emotions- und Spannungsbarometer.

Stimming: nicht nur Autist:innen tun es

Das sind ideale Voraussetzungen, um einen besseren Umgang mit dem Aspekt der Überlastungserscheinungen bei Kindern oder Erwachsenen mit Autismus zu finden. Denn Ergotherapeut:innen beherrschen das Beobachten gut; Beobachten ist sogar ein Testverfahren, das ungefiltert Verhaltensweisen und -muster an den Tag bringt. So ist es auch in diesem Fall hilfreich: Ergotherapeut:innen sind in der Lage, sobald sie ihre Patient:innen mit Autismus etwas näher kennen, deren individuelle erste Anzeichen sich anbahnender Überlastung richtig zu deuten. In stressigen Situationen ist bei vielen Menschen das sogenannte Stimming zu erkennen, ein unbewusstes Verhalten, welches sowohl Nicht-Autist:innen als Menschen mit Autismus zeigen, um verstärkte Anspannung abzubauen. Stimming sind gleichbleibende, sich wiederholende Handlungen, wie beispielsweise Klicken mit dem Kugelschreiber, Wippen mit dem Bein, Haare aus dem Gesicht streichen oder Haarsträhnen drehen. Autist:innen verhalten sich also nicht anders als andere und nutzen Stimming unbewusst, um sich selbst zu regulieren. Häufig, indem sie den Oberkörper schaukeln, was oft als störend, unangenehm oder sinnlos bezeichnet wird. Dabei hat es dieselbe Funktion wie bei Nicht-Autist:innen: sich selbst beruhigen. Gelingt ihnen das nicht – immerhin haben autistische Menschen durch die veränderte Wahrnehmungsverarbeitung ein deutlich höheres und intensiveres Stresslevel – kann es zu einer Überlastungssituation kommen. Um dies zu verhindern, können Außenstehende wie Schulbegleiter:innen, generell das Umfeld autistischer Menschen oder auch Ergotherapeut:innen während einer Intervention dafür sorgen, dass es zum Beispiel eine Erholungspause gibt, um das Stressniveau wieder zu senken.

Sicherheit: das wichtigste aller Bedürfnisse von Menschen mit Autismus

Eines der zentralen Ziele ergotherapeutischer Interventionen ist daher, in der gemeinsamen Reflexion mit Autist:innen Strategien zu erarbeiten, damit sie in kritischen Situationen besser reagieren können und es ihnen eher gelingt, die für andere irritierenden „Ausraster“ zu vermeiden. Auch Hilfsmittel bringen eine Veränderung und senken die Reizschwelle. Wer empfindlich auf Geräusche reagiert, kann einen Hörschutz oder Kopfhörer tragen; ist helles Licht ein Trigger, kann die Lösung sein, auch innerhalb von Räumen die Sonnenbrille aufzusetzen. Die wichtigste Voraussetzung für ein möglichst niedriges Stresslevel und dafür, dass es im Alltag für Autist:innen gut läuft, ist jedoch Sicherheit. „Sicherheit ist DAS elementare Bedürfnis schlechthin, wichtiger noch als die basalsten aller Bedürfnisse Essen, Trinken und Schlafen“, bestätigt Knauerhase, was er auch in seinen Seminaren den teilnehmenden Ergotherapeut:innen vermittelt. Die Bedeutung von Sicherheit im Leben von Autist:innen begründet er nachvollziehbar: „Je sicherer sich Menschen fühlen, desto weniger bedrohlich wirkt das, was auf sie einprasselt oder wenn etwas passiert, womit man gerade nicht rechnet“.

Fördern ja, überfordern nein: erreichbare Ziele mit Ergotherapeut:innen festlegen

Ziele zu vereinbaren gehört zu den Grundprinzipien einer ergotherapeutischen Intervention. Was wollen Patient:innen erreichen, was wollen sie am Ende der Therapie können? Sind Kinder die Patient:innen, haben auch die Eltern – verständlicherweise – Wünsche. Manchmal ist das Abwägungssache, aber nie sollte ein Anliegen der Eltern zu einer Überforderung des Kindes führen. Das ist gerade bei autistischen Kindern ein Dilemma, wenn die Eltern Vorstellungen äußern wie beispielsweise: „Versuchen Sie, dass mein Kind anderen Menschen in die Augen schaut, wenn es mit ihnen redet“. Das sei ein häufig geäußertes Anliegen, aber leider ein Normierungsgedanke und kaum umsetzbar, sagt Knauerhase, der selbst weiß, wie schwer Menschen mit Autismus der Blickkontakt fällt. Es gibt viele Gründe, warum Ergotherapeut:innen Eltern mit in ihre Interventionen einbeziehen. Durch die Arbeit mit den Eltern erhalten diese zum einen mehr Tiefenwissen über die Störung, die ihr Kind hat. Außerdem sensibilisieren Ergotherapeut:innen Eltern für die Besonderheiten ihres Kindes und die Fähigkeiten, die es auszeichnet, was sich positiv auf die manchmal belastete Eltern-Kind-Beziehung auswirkt. Auch gelingt auf diese Weise üblicherweise der Konsens in puncto Ziele: Ergotherapeut:in, Kind und Eltern finden gemeinsam andere, für die Entwicklung des Kindes gerade bedeutendere Ziele, die es – so kleinschrittig wie nötig – erreichen kann und will. Knauerhase weiß aus eigener Erfahrung, wie schmal der Grat zwischen Fordern und Überfordern bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen mit Autismus ist. Er versteht, wie sich das auf die Arbeit von Ergotherapeut:innen auswirkt: „Es ist ein Tanz auf der Rasierklinge“.

Die Welt wird inklusiver und Autist:innen wollen ein Teil dieser Welt sein

„Es ist ein Mythos, dass Autist:innen kein Bedürfnis nach Nähe hätten“, stellt Knauerhase klar. Gerade in der Pubertät stellen sich Jugendliche mit Autismus die Frage, wie es gelingen kann, eine Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen und Freundschaften entstehen zu lassen. Eine grundlegende Thematik ist, dass Autist:innen Smalltalk als völlig unsinnig empfinden. Ihre kommunikative Direktheit kann jedoch auf andere unhöflich und befremdlich wirken, was zunächst Barrieren aufbaut und das Knüpfen sozialer Kontakte erschwert. Ergotherapeut:innen finden daher zusammen mit ihren autistischen Patient:innen heraus, welche Interessen sie haben und verknüpfen das mit den Zielen: Gesprächseinstiege finden und Möglichkeiten, mit anderen in Kontakt zu kommen. Schon im Kindesalter haben Menschen mit Autismus ein besonderes Verhältnis zu Tieren. So kann ein Lösungsansatz sein: Sich mit dem Tierheim vor Ort in Verbindung setzen und einmal in der Woche einen Hund Gassi führen. Hunde sind Eisbrecher und Hundehalter:innen meist ebenso kontaktfreudig wie ihr Tier. Das erleichtert Menschen mit Autismus eine erste Kontaktaufnahme. Parallel zu diesen neuen Möglichkeiten in ihrem Alltag arbeiten diejenigen mit Autismus gemeinsam mit ihrer Ergotherapeutin oder ihrem Ergotherapeuten daran, die sozialen Interaktionen weiter zu beleben und am Laufen zu halten.

Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche. Zum Podcast gerne hier entlang: https://dve-podcast.podigee.io/

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