Gesundheit & Medizin

„Neurorehabilitation im demografischen Wandel“ – Aktuelle Entwicklungen in der Rehabilitationsmedizin: Versorgungsstruktur, Chancen der Automatisation mit neuen Technologien und Wertediskussionen

Die 8. Gemeinsame Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) und der Deutschen Gesellschaft für Neurotraumatologie und klinische Neurorehabilitation (DGNKN) wurde mit rund 520 Teilnehmern vom 10. bis 12. Dezember 2020 erfolgreich durchgeführt. Der wichtige wissenschaftliche Austausch in dem rasant wachsenden und hochaktuellen Fachgebiet, der zum ersten Mal als digitaler Kongress stattfand, brachte wichtige neue Erkenntnisse in verschiedenen Bereichen. Das Motto der Jahrestagung „Neurorehabilitation im demografischen Wandel“ hatten die vier Tagungsleiter gesetzt: Prof. Dr. med. Stefan Knecht, St. Mauritius Therapieklinik, Meerbusch, Dipl.-Psychologe, Dr. rer. medic. Volker Völzke, VAMED Klinik Hattingen, Priv.-Doz. Dr. med. Kristina Müller, St. Mauritius Therapieklinik, Meerbusch und Prof. Dr. med. Mario Siebler, Fachklinik Rhein/Ruhr, Essen.

„Wir werden nicht nur älter, sondern in den nächsten 20 Jahren werden auch zunehmend weniger Menschen erwerbstätig werden. Die Medizin wird besser, wir werden schwerwiegende Erkrankungen überleben und die Menschen in der Neurorehabilitation werden schwerer betroffen sein und mehr Komplikationen haben”, betonte Prof. Knecht. „Das stellt uns vor Herausforderungen in der Versorgungsstruktur, in Inhalten, aber auch in Wertediskussionen.“ In vielfältigen Diskussionen beleuchtete die Tagung, wie sich die Neurorehabilitation unter den Bedingungen dieses Wandels weiterentwickeln kann, indem sie effizienter wird und gleichzeitig human bleibt. Dabei gab auch der „Blick über den Tellerrand“ wichtige Impulse: Zu dem Problem, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer mehr Bedürftige im Bereich der Rehabilitation versorgen zu müssen, wurden in einem Symposion nationale Lösungsstrategien im weltweiten Vergleich vorgestellt und diskutiert.  

In diesem Kontext standen auch die Veranstaltungen zum Thema Digitalisierung, virtuelle Therapien und Big Data mit der Frage, inwieweit mit weniger Mitarbeitern mehr Patienten geholfen werden könnte. Ein eigenes Symposium beschäftigte sich mit der digitalen Herausforderung im Sinne von Data-Mining, der systematische Anwendung computergestützter Methoden: „Eine sehr interessante Technologie für die Rehabilitation“, wie Prof. Siebler anmerkte, „um viele Dinge frühzeitiger und besser zu erkennen.“ Gleichzeitig müsse beim Thema Automatisierung ganz genau nachgefragt werden, was in welchem Bereich automatisiert werden sollte. In der Diskussion zu Chancen der Automatisation mit neuen Technologien und Künstlicher Intelligenz stellte Dr. Völzke heraus, „dass die therapeutische Beziehung und moderne Technologie nicht im Widerspruch stehen, sondern miteinander in Beziehung gesetzt werden können.“ Neben einem eigenen Symposion mit neuen Studien zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung in der Neurorehabilitation gab es eine Session mit aktuellen Forschungen zu funktionellen neurologischen Störungen. Vor dem Hintergrund, dass diese schon jetzt und voraussichtlich auch in den nächsten Jahrzehnten zunehmen, betonte Frau Dr. Müller den hohen Stellenwert der Tagungsschwerpunkte moderner patho-physiologischer Konzepte und angemessener Therapiemöglichkeiten in der Neuroreha.  

Spezialisierte Mediziner, klinische Wissenschaftler und Therapeuten aus der Neurologisch-Neurochirurgischen Rehabilitation diskutierten außerdem hochaktuelle Tagungsschwerpunkte wie „Neue Perspektiven durch COVID-19“ und „Früh- und Beatmungsrehabilitation“. Nach Einschätzung von Prof. Knecht benötigt ein Großteil der jetzt Intensivmedizin-bedürftigen, schwererkrankten COVID-19 Patienten nach der Akutbehandlung eine neurologische Frührehabilitation. Angesichts der Knappheit dieser Plätze mit intensivmedizinischen Vorhaltungen sollten dringend weitere Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden.  

Ein weiterer Schwerpunkt des multiprofessionellen digitalen Kongresses war neben Ansätzen, Inhalten und neuen Möglichkeiten auch die Positionierung im Kontext größerer gesellschaftlicher Entwicklungen. Ein aktueller Diskussionspunkt waren die unzureichenden Versorgungsstrukturen. Dass Neuroreha sich kontinuierlich weg von der althergebrachten „Kur“ in Richtung Krankenhausmedizin entwickle, sei in der Sozialgesetzgebung, bei Krankenkassen und in der Politik noch nicht hinreichend ange­kommen. Zwar haben die meisten Bundesländer auf die Zunahme älterer und kränkerer Patienten in Neuroreha­zentren reagiert und Frühreha-Abteilungen zu Krankenhausabteilungen umgewandelt, Nordrhein Westfalen jedoch noch nicht: „Wir bekommen nur dann mehr Krankenhausversorgung in die Reha­kliniken, wenn die gesamte Neurorehabilitation in die Krankenhaus­planung überführt wird“, betonte Prof. Knecht. Schon jetzt müssten 40% aller Patienten in der neurologischen Anschluss­rehabilitation mindestens einmal akut kranken­haus­medizinisch versorgt werden. „Die Frage ist, wie teuer die resultierende Fehlversorgung noch werden soll, bevor die Akteure die notwendige Transformation des Systems angehen.“  

Auch die aktuelle Diskussion um langwierige Beantragungsverfahren nach der klinischen Akutbehandlung war ein Tagungsthema. Beim sogenannten Genehmigungs­­vor­behalt für Neurorehabilitation bedeute die bisher übliche, formalistisch umständliche Prüfung eines Reha-Antrages bei stark eingeschränkten, komplikations­gefährdeten Patienten nach einem Schlaganfall im Krankenhaus die Verzögerung einer Neurorehabilitation und grenze an fahrlässige Körperverletzung, so Prof. Knecht. Das Bewilligungsverfahren sei völlig verzichtbar, wie die Aussetzung des Genehmigungs­vorbehaltes für neurologische Anschlussrehabilitation während der ersten COVID-Welle gezeigt habe: „Die Versorgung hat bestens geklappt. Patienten waren im Mittel 6 Tage früher in der Neuroreha, die Rehadauer war nicht verlängert. Stattdessen sind durch Abbau der Wartezeiten auf einen Schlag 5000 Krankenhausbetten für die Versorgung anderer Patienten frei geworden.“  

Die zahlreichen Vorträge der hochkarätigen nationalen und internationalen Referenten wurden in Plenarsitzungen und Symposien von den Teilnehmern online verfolgt. Drei Tage lang konnten sie zwischen den Sitzungen wechseln, sich im Chat am fachlichen Diskurs und an Live-Diskussionen beteiligen und sich im Lounge-Bereich mit Kolleginnen und Kollegen austauschen. Auch über den Kongresszeitraum hinaus bleiben Kongressinhalte und Industriepräsentationen digital verfügbar und können „on demand“ abgerufen werden.

Weitere Informationen zu den Fachgesellschaften gibt es unter www.dgnr.de und www.dgnkn.de. Die 27. Jahrestagung der DGNR ist vom 8. – 11. Dezember 2021 im Zusammenschluss des Kongresses der European Federation of NeuroRehabilitation Societies (EFNR) in Berlin geplant. Informationen dazu unter www.efnr-congress.org.  

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