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Was ist eigentlich dieses „normal“?

In den letzten zwei Jahren wird immer wieder die Forderung nach einer Rückkehr zur Normalität laut.

Verfolgt man die damit verbundenen Diskussionen, verbirgt sich dahinter zumeist der Wunsch, dass es „so wird wie vor dem Beginn der Pandemie“. Medien und Politik verbreiten den Eindruck, dass dieser Begriff „normal“ ein gesellschaftlicher Konsens ist. Selbst jetzt, wo Politiker im Ukraine-Krieg von einem Wendepunkt reden, wird unser geliebtes „normal“ nicht in Frage gestellt. Und dabei wäre es gerade in Krisen so wichtig, einmal die Frage zu stellen, woran wir als Gesellschaft unsere Normalität eigentlich festmachen (wollen).

Was ich beobachte ist, dass sich hinter Vielem dieser zurückgewünschten Normalität unser Konsumverhalten versteckt. Wir wollen wieder shoppen, mit vielen Menschen in Veranstaltungen sein, den Abend beim Italiener in großer Runde verbringen, reisen, wann und wohin wir wollen, auch auf durchaus luxuriösen Schiffen oder in komfortablen Hotels übernachten.

Es geht natürlich auch ums Wirtschaften. Wir hoffen, dass unsere Wirtschaft wieder floriert und wächst, Kurzarbeit endet, Büros wieder öffnen. Einige Stimmen sehen Veränderungen wie Home-Office, auch hier geht es allerdings mehr um persönliche Wahlmöglichkeiten als um eine große Veränderung unserer Arbeitswelt.

Und nicht zu vergessen Kunst und Kultur. Sie leisten einen ganz wesentlichen, ja essentiellen Beitrag zur Zivilisation und unserem Sein. Unser „normal“ vor der Krise wurde zunehmend gesteuert von der Eventbranche, die Kunst massentauglich vermarktet und inzwischen auch einen eigenen Studiengang kennt.

Mit all diesen Möglichkeiten verbinden wir unsere Freiheit, sie plötzlich nicht mehr zu haben, schränkt uns ein. Das wollen wir verständlicherweise zurück.

Die Psychologin Verena Kast spricht von der Sehnsucht der Menschen nach Harmonie in Krisen, das scheint mir für diesen Wunsch zu passen. Freiheit in der Wahl, wie wir unser Leben gestalten, scheint auf den ersten Blick in einer Gesellschaft, die das Individuum und sein/ihr Glück in den Mittelpunkt stellt, die perfekte Harmonie. Und so finde ich den Wunsch sehr verständlich.  

Und all das hat eben auch einen Preis: Unsere Gesellschaft überbeansprucht den Planeten und seine Ressourcen. Der Massentourismus zerstört alte Kulturdenkmäler. Unsere stets verfügbare Unterhaltungskultur verhindert Langeweile und damit Reflektion und Kreativität. Unser Freiheitsbegriff wird zunehmend am Recht des Einzelnen festgemacht, sich ohne Beschränkungen zu verwirklichen, der Staat wird zum Gegner dieser Freiheit statt zum Mediator verschiedener, oft widersprüchlicher Anforderungen seiner Mitglieder.

Im Wesentlichen reduzieren sich unsere individuellen Möglichkeiten nur durch das Fehlen von Geld. Je reichlicher es vorhanden ist, desto grandioser sind unsere Möglichkeiten. Schule wird zum Eingangstor für den materiellen Wohlstand, über den Noten und Herkunft entscheiden.

Auch all das beschreibt das „normal“, nach dem sich viele Menschen in unserem Land zurücksehnen.

Nun durchleben wir gerade eine Zeit der (bewussten) Ungewissheit.  Die Ungewissheitsforschung sagt, solche Zeiten haben großes Potential für Veränderungen. Als Beispiel werden gerne Entdeckungsreisen angeführt, durch die Neues in die bisherige Welt gebracht wird. Die Welt ist danach anders als zuvor. Die oft als Helden bezeichneten Reisenden bringen aber nicht nur neue Güter aus dem entdeckten Land in ihre alte Welt, sondern sie kommen auch mit einem reichen Schatz an Erfahrungen zurück, mit dem sie ihre Herkunfts-Kultur beeinflussen.

In der aktuellen Zeit sind wir alle diese HeldInnen. Wir alle sammeln Erfahrungen weit jenseits unserer Komfortzone. Daher ist es meiner Meinung nach an der Zeit, die Frage zu stellen, woran wir als Gesellschaft zukünftig und dabei ganz konkret unser „normal“ festmachen wollen.

Ist es nicht eigentlich viel normaler, die Ressourcen eines endlichen Planeten als Begrenzung unseres Lebensstils zu achten? Ist es nicht auch normal, dass alle Menschen am Wohlstand teilhaben – zumindest wenigstens erst einmal in Europa damit anzufangen? Ist es denn auch zukünftig normal, dass Kulturveranstaltungen immer mehr Besucher haben, so dass ich Schauspieler, Musiker nur noch mit dem Fernglas sehen kann? Und bleibt es normal, dass wir Tiere als Produkte betrachten –  mit all den Konsequenzen, die wir jetzt in der Pandemie erlebt haben? Oder finden wir es zukünftig normal, Energie oder Medikamente wegen des geringeren Preises aus autokratisch regierten Ländern zu importieren, von deren Wohlwollen wir uns damit abhängig machen? Diese Liste an Fragen ist beliebig erweiterbar. Und bei all diesen Fragen muss vor allem auch geklärt werden, wieviel unterschiedliches „normal“ wir als Gesellschaft aktuell kennen und wie wir uns gemeinsam neu definieren – Frau Kast nennt das Identität , eine ganz wesentliche Voraussetzung für Stabilität.

Meine Eltern waren aus der Generation Wirtschaftswunder. Von Ihnen habe ich gelernt und später auch selbst miterlebt, dass Wirtschaftswachstum etwas ganz Wundervolles ist. Inzwischen ist auch dieses Wachstum zum „normal“ geworden, ein anderes Wirtschaften quasi nicht einmal mehr vorstellbar. Ich stelle hier die Hypothese auf, dass wir implizit Wachstum der Wirtschaft mit individuellem Wachstum (Entwicklung) verwechseln, letzteres laut Neurobiologen (vgl. z.B. Gerald Hüther) ein Kern unseres Seins.

All diese festgezurrten Wertedefinitionen hindern uns daran, das Neue in den momentanen Krisen zu suchen, Begriffe wie „normal“ und „Wachstum“ zu hinterfragen und deren Bedeutung für uns neu zu definieren. Unser Wunsch nach der Schein-Harmonie des bisherigen „normal“ blockiert gesellschaftliche Entwicklung und die ist doch so not-wendig in einer Zeit, in der sich die Lebensbedingungen auf dem Planeten radikal wandeln werden.  In Ihrer Vorlesungsreihe zur Dynamik von Krise und Wandlung stellt Frau Kast den Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach Harmonie und suizidalem Geschehen vor. Die Krise wird als so einschränkend und bedrohlich gesehen, dass Tot-Sein mit Harmonie verbunden wird.

Diese Dynamik macht mich in Bezug auf die immer wieder geäußerte Forderung unserer Gesellschaft nach Normalität besorgt.

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