Gesundheit & Medizin

Folgen von emotionalem Missbrauch für Betroffene oftmals so schwerwiegend wie Kriegstraumata

Emotionaler Missbrauch ist eine Form von Gewalt und im Gegensatz zu körperlicher oder sexueller Gewalt sehr schwer fassbar. „Körperliche Gewalt in Form von Schlägen und sexueller Missbrauch werden oft thematisiert; psychische Gewalt hingegen findet bislang wenig öffentliche Beachtung“, beklagt Nicole Boschan, Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.), die derzeitige Situation und Berichterstattung rund um emotionalen Missbrauch, der häufigsten Form der Misshandlung. Betroffene realisieren selten von alleine, was ihnen passiert. Auch wenn sie wahrnehmen, dass etwas „nicht stimmt“, führen sie das meist auf sich selbst zurück oder bekommen das so von den Täter:innen gesagt und gezeigt. Was die wenigsten wissen: Emotionaler Missbrauch kann Traumafolgestörungen nach sich ziehen; die steigende Zahl Betroffener in ergotherapeutischen Praxen spricht für sich.

Die Zahl der Opfer von Gewalt nimmt zu. Das zeigen die jährlich veröffentlichten Polizeistatistiken, die die gemeldeten oder zur Anzeige gebrachten Fälle von physischer und psychischer Gewalt in Partnerschaften umfassen.  Bedrohung, Stalking und Nötigung machen dabei einen Anteil von fast 25 % aus. Gewalt, ob physisch oder psychisch, ist alles andere als harmlos, denn auch das belegen die Zahlen der Polizei: Jede Stunde erleiden durchschnittlich dreizehn Frauen Gewalt in der Partnerschaft. Täglich kommt es dabei zu versuchter Tötung. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau dann auch tatsächlich. Weitere Berichte und Untersuchungen stellen fest, dass emotionaler Missbrauch die häufigste Form der Misshandlung darstellt.

Folgen von psychischer Gewalt respektive emotionalem Missbrauch

„Das sind lediglich die Zahlen, die bekannt sind“, betont die Ergotherapeutin Boschan. Missbrauch und Gewalt sind angst- und schambesetzte Themen; es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Die Gründe liegen im Innen – also an den Personen selbst, die sich in ihrer Ohnmacht handlungsunfähig fühlen – aber auch im Außen, denn nach wie vor wird psychische Gewalt bagatellisiert. Vermutlich ist das auch deshalb so, weil emotionale Gewalt nicht sichtbar ist und sich die Täter:innen Außenstehenden in der Regel von ihrer besten Seite zeigen. Den Betroffenen wird daher selten geglaubt, was zusätzlich an deren Selbstwertgefühl nagt. Dabei weiß man heute, dass emotionaler Missbrauch genauso traumatisierend wirken kann wie ein Kriegseinsatz auf Soldaten. „Selbst die Beratungsstellen fokussieren sich mehrheitlich auf körperliche oder sexuelle Gewalt; für andere Missbrauchsformen gibt es nur wenig Hilfsangebote“, weiß die Ergotherapeutin Nicole Boschan. Sie sagt: „Eine gute, erste Anlaufstelle sind Hausärzt:innen“. Zwar ist es in der Realität oft so, dass Betroffene erst dann, wenn sie die Folgeschäden des emotionalen Missbrauchs wie posttraumatische Belastungsstörungen, Angst- und Panikstörungen oder Depressionen nicht mehr aushalten, ärztlichen Rat suchen. Wer jedoch selbst feststellt oder von ehrlichen Freund:innen hört, dass die Art und Weise, wie der Partner beziehungsweise die Partnerin einen behandelt, nicht in Ordnung ist, kann Hilfe bekommen. Hausärzt:innen können beispielsweise mit der Diagnose „psycho-vegetatives Erschöpfungssyndrom“ eine ergotherapeutische Intervention verordnen – je nach Ausprägung affektiver Symptome auch als Blankoverordnung außerhalb des ärztlichen Budgets und so, dass die Betroffenen rasch und wenn nötig intensiv betreut werden können.

Ergotherapeut:innen gehen den Ursachen von emotionalem Missbrauch nach

„Den wenigsten Patient:innen, die in meine Praxis kommen, ist tatsächlich bewusst, dass sie emotionalem Missbrauch ausgesetzt waren oder sind“, bestätigt Nicole Boschan, was Menschen, die sich noch nie in einer solchen Lage befunden haben, kaum glauben können. Beim Erstgespräch hört die Ergotherapeutin von vielen, dass schon ihre Kindheit nicht so gut war oder wie sich die Eltern ihnen gegenüber verhalten haben. „Die Betroffenen kommen meist selbst aus dysfunktionalen Strukturen und sie suchen sich wieder ähnliche Partner:innen, sprich Menschen, die sich verhalten wie Mama oder Papa“, erklärt die Ergotherapeutin. Dysfunktional bedeutet in diesem Kontext, dass in der Ursprungsfamilie ein starkes Machtgefälle zwischen den Eltern als „Oberhaupt“ und ihren Kindern besteht, welches von Drohungen, emotionaler Erpressung und Ausbeutung geprägt ist. Liebe, Fürsorge und Verbundenheit fehlen, es gibt keinen familiären Zusammenhalt. Und ebenso ist auch das Verhalten von Täter:innen: Es fehlen Zuwendung, Trost, Schutz, Anerkennung, Liebe und Fürsorge. Stattdessen wird der oder die Andere in emotionale und finanzielle Abhängigkeiten gebracht, kleingemacht, nicht beachtet, seine/ ihre Wünsche ignoriert oder schlechtgemacht, von anderen Menschen isoliert, bedroht und ausgenutzt. Und das über Jahre hinweg. Man kann sich also vorstellen, wie viel Selbstwertgefühl übrigbleibt. Eine der Aufgaben von Ergotherapeut:innen ist daher, gemeinsam mit den Patient:innen nach deren eigenen Wünschen und Vorstellungen vom Leben zu schauen und vor allem ihr Selbstwertgefühl wieder aufzubauen.

Teil der ergotherapeutischen Intervention: Strategien zur Bewältigung des Alltags

„Wir haben es mit oftmals schwer traumatisierten Menschen zu tun“, stellt die Ergotherapeutin Boschan klar. Es gilt – und dafür hat die Ergotherapie eine beachtliche Bandbreite an Interventionsmöglichkeiten und Konzepten – die Patient:innen im Aufbau ihrer Handlungsfähigkeit zu unterstützen. Das bedeutet unter anderem, mit den Betroffenen gemeinsam Strategien zu erarbeiten, damit sie konkret von ihnen benannte, schwierige Situationen besser in ihrem Alltag bewältigen können. Es ist nachvollziehbar, wie sehr das Selbstwertgefühl durch Abwerten, Drohen, Ignorieren, Bloßstellen und die dadurch entstandene Verunsicherung leidet. Manchmal wissen die Betroffenen überhaupt nicht mehr, wer sie selbst sind, weil sie ihre persönlichen Bedürfnisse zurückgestellt und sich auf die Erwartungen der Täter:innen ausgerichtet haben. Sie haben den Zugang zu sich selbst und zu den eigenen Gefühlen verloren, oftmals ist auch ihre Körperwahrnehmung stark eingeschränkt. Dafür bieten Ergotherapeut:innen zusätzlich zu anderen Behandlungskonzepten wie der Sensorischen Integrationstherapie zur Verbesserung der Sinneswahrnehmungen beispielsweise handwerklich kreative Ansätze. Das führt Betroffenen vor Augen, dass sie durchaus selbst und eigenverantwortlich handeln können. Sie können ausprobieren und erfahren, was ihnen Spaß macht und ihre eigenen Vorlieben und Bedürfnisse wieder entdecken. Zu einem weiteren Aha-Effekt kommt es, wenn Patient:innen den Arbeitsprozess selbstständig steuern – sie handeln selbstbestimmt und erleben somit das Gegenteil von Fremdbestimmung, einem Zustand, dem sie zuvor ausgesetzt waren.

Weitere ergotherapeutische Unterstützung: Hilfestellung von allen Seiten anstoßen

„Das ständige, subtile Unterdrücktwerden sorgt für enormen Stress im Nervensystemr“, verdeutlicht Nicole Boschan. Auch daran arbeiten Ergotherapeut:innen mit ihren Patient:innen: Sie sorgen dafür, dass sie zu ihrer inneren Ruhe kommen. Dazu Boschan: „Nur mit einem entspannten Gehirn lassen sich Perspektiven erkennen, Entwicklungsmöglichkeiten sehen und die eigene Persönlichkeit entfalten“. Ein weiterer Aspekt ist Vertrauen, welches die Patient:innen fast immer sowohl zu sich selbst als auch in die Außenwelt verloren haben. Daher zeigen Ergotherapeut:innen durch ihre eigene Haltung, dass sie ihre Patient:innen genauso annehmen wie sie sind. Darüber hinaus bieten sie verschiedene Ansätze an wie die tiergestützte Therapie oder den geschützten Raum einer Gruppentherapie, um das Vertrauen der Betroffenen in sich selbst und zu anderen wieder aufzubauen. Neben der therapeutischen Arbeit spielen auch praktische Dinge eine Rolle: „Wir unterstützen unsere Patient:innen dabei, sich zu lösen“, legt Boschan dar und weist auf ein grundlegendes, ergotherapeutisches  Prinzip hin: „Ich gebe meinen Patient:innen nie Ratschläge, sondern unterstütze sie dabei, zu eigenen Entscheidungen zu kommen“. Nicht alle, aber sehr viele erkennen im Laufe der Therapie, dass eine Verbesserung ihrer Lage unweigerlich mit einer Trennung vom Täter beziehungsweise der Täterin einhergeht. „Gemeinsam überlegen wir dann, wie dies gelingen kann, welche Schritte nötig sind und wie sich alles konkret umsetzen lässt“. Es ist eine Vielzahl von Fragen zu klären, auch, ob es eine finanzielle Absicherung braucht und welche Anträge bei welchen Behörden zu stellen sind, da, wie bereits gesagt, die meisten von den Täter:innen finanziell abhängig gemacht wurden.

Ergotherapeutische Hilfe und Informationen weiter ausweiten

„Das alles ist nicht immer gezielte Bösartigkeit“, weiß die Expertin „Manche der Täter:innen leiden selbst an psychischen Störungen und kommen nicht auf die Idee, sie könnten etwas Falsches tun.“ Die meisten haben selbst in ihrer Kindheit emotionalen Missbrauch erlebt und empfinden die Situation und ihr Verhalten als einen normalen Zustand oder sagen, der oder die andere habe sie provoziert. Sie benötigen selbst Hilfe, auch wenn sie das gar nicht wahrhaben wollen und daher in aller Regel nichts unternehmen. Die Ergotherapeutin Nicole Boschan hat es sich zum Ziel gesetzt, das Thema „Emotionaler Missbrauch“ stärker in das Bewusstsein der Menschen zu rücken. Sie veranstaltet gemeinsam mit ihrem Kooperationspartner Wolfgang Siepen Informationsabende, für die sie auf Anfrage zu Einrichtungen und Trägern kommt, die ihre Angebote zu gesundheitlichen Themen erweitern möchten. Parallel veranstaltet sie für ihre Berufskolleg:innen Fortbildungen im Rahmen der Akademie des DVE.

Mehr zur Fortbildung zum Thema „emotionaler Missbrauch“: www.dve.info/akademie Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche

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